© Svetlana Savickaya
WEIßE BLUMEN
Deutsch von J.Schwarz
In der undurchdringlichen Lichtung des finsteren Waldes lag einst eine dunkle Stadt. In ihr lebten unglückliche Menschen. Ihre Schätze versteckten sie in Truhen und Schränken. Die Häuser waren von hohen Mauern umschlossen und die Höfe wurden von grimmigen Hunden bewacht.
Das Schlimmste war jedoch – die Bewohner verbargen ihre Gesichter unter Masken. Wenn sie zur Arbeit gingen, trugen sie die Maske des Wissens, wenn sie einkauften – die Maske der Triebbefriedigung. Sie hatten ihre besonderen Masken für alle Fälle. Sie betrogen, flunkerten und hintergingen sich gegenseitig, wo und wann sie nur konnten. Mit der Zeit wurden ihre Seelen so hart, dass sie zu kleinen Sandkörnern wurden…
Aber eines Tages tauchte in ihrer Stadt ein Haus auf, das völlig anders aussah als all die anderen Häuser. Umgeben von einem Garten mit wunderbaren weißen Blumen, die ihren Duft über die ganze Stadt verströmten, stand es in der Innenstadt, am Hauptplatz, ohne Gitter und Mauern und eine weiße zauberhafte Aura strahlte von ihm aus. Zwischen den üppig wuchernden und reich blühenden Pflanzen schwebte auf einer Schaukel ein junges, wunderschönes Mädchen mit langen roten Haaren. Sie leuchteten wie eine lodernde Flamme im Schnee inmitten des weißen Gartens.
Die Einwohner streiften sich ihre Masken der Ignoranz und der Überlegenheit über und doch betrachteten sie voller Neugierde alles bis ins kleinste Detail. Als die Nacht hereingebrochen war, verbargen sie sich unter den Masken der Diebe und schlichen herbei, um die weißen Blumen zu stehlen.
Mit ihren habgierigen Händen rissen sie alle Pflanzen mitsamt ihren Wurzeln heraus. Die Blumenbeete stampften sie gewaltsam nieder, weil sie sie ja nicht wegtragen konnten. Jeder Bürger der Stadt pflanzte die weißen Blumen sodann in seinem eigenen schwarzen Garten ein, doch am nächsten Morgen waren sie alle schon wieder verwelkt.
Am folgenden Tag streiften sich die Einwohner der Stadt die Masken der Neugierde über und betrachteten wieder das wunderbare Haus mit seinem herrlich leuchtenden Garten, der duftete, als ob ihn niemand angerührt hätte. Wieder sahen sie das Mädchen auf seiner Schaukel.
„Sie verhöhnt uns bloß!“, ärgerten sich die Einwohner. In der Nacht verbargen sie sich unter den Masken der Mörder , um an ihr ihren Zorn zu kühlen.
Doch als sie durch die geöffneten Fenster und Türen in das Haus des Mädchens eindrangen, bemerkten sie, dass es vollkommen leer war. Nur Schatten huschten an der Wand entlang. Von schier unstillbarer Wut entbrannt, zerstörten sie das Haus und verwüsteten den Garten. Doch kaum hatten sie sich umgewandt, da war die wundersame Schönheit des Hauses aufs neue erstanden.
Den Rest der Nacht verbrachten sie schlaflos. Denn irgendetwas hatte sie verwandelt. Eine unwiderstehliche Kraft zog sie zu diesem merkwürdigen, unbezwingbaren Haus. Am nächsten Morgen umschlichen sie es und verbargen sich nicht einmal unter ihren Masken. Voller Verwunderung fragten sie das Mädchen, während es lächelnd ihre Blumen goss:
„Wer seid Ihr? Warum seid Ihr zu uns gekommen? Warum tragt Ihr keine Maske? Warum habt Ihr keine Mauern um Euer Haus? Und warum bewachen Euch (besser in der 2. Person: Wer bist du? Warum bist du zu uns gekommen….etc.) keine bissigen Wachhunde?“
„Ich bin euer Traum!“, erwiderte das Mädchen mit einem leichten Lächeln. Auf einen Schlag fühlten sich alle Bürger erleichtert:„Ich habe lange darauf gewartet, dass ihr zu mir kommt, ohne eure Masken zu tragen, und nun seid ihr gekommen. Dafür schenke ich jedem von euch eine Blume.“
Die Falten ihrer Kleidung dehnten sich und man konnte nun durchsichtige Schwingen erkennen. Mit ihnen schwebte die unbekannte Schöne schwebte von einer Blume zur anderen.
„Sucht euch eine aus!“, sprach sie, „die weißen Chrysanthemen stehen für die Hoffnung, die weißen Orchideen für die Vollkommenheit, die weißen Nelken meinen die Freundschaft, die weißen Rosen die reine Liebe, die weißen Pfingstrosen stehen für die Unschuld, die weißen Lilien für die Reinheit… Nehmt sie, sie gehören euch!“
Ein jeder nahm sich eine Blume, zunächst voller Misstrauen und Vorsicht, um sie in seiner Seele zu pflanzen. Und plötzlich begann die Stadt hell zu strahlen. Die Mauern zerbrachen, die bösen Hunde zogen sich zurück, die Truhen öffneten sich…
An der Stelle, an der das wundersame Haus gestanden hatte, erschien nun wie aus dem Nichts d eine riesige, rot leuchtende Flamme. Die Bewohner sammelten alle Masken, die sie nun nicht mehr brauchten, und warfen sie in dieses helle Feuer.. Im lodernden Schein der Flammen gingen die Masken ins Nichts über.
Auch der schwarze Wald zog sich wie von Wunderkräften zurück. Die Stadt aber wurde zu einem der Ort des vollkommenen Glücks und wurde fortan das Paradies genannt. Hundert Wege führen zu ihm - du brauchst bloß in dich zu blicken und du findest die rechte Straße dorthin.. Und wenn du in deiner Seele eine dieser weißen Blume findest, so bist du in dieser Stadt immer willkommen.